Was ist Écriture automatique? | #Walthersfrage

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Kunst / Literatur

Bei den ersten Kunstwerken des Surrealismus handelte es sich um geschriebene Texte. Diese Texte waren Ergebnisse der Écriture automatique (dt. automatische Schreibweise), einer Technik, die den Automatismus in den künstlerischen Schaffensprozess seiner Begründer integrieren sollte. Diese waren die drei Freunde André Breton, Phillippe Soupault und Louis Aragon. Sie fanden sich zumeist in Bretons Atelier zu Séancen zusammen, während dieser sie diese neuen Techniken ausgiebig testeten. Unter Séancen sind in diesem Zusammenhang gemeinschaftliche Sitzungen zu verstehen, bei denen die Mitglieder der surrealistischen Gruppe durch unterschiedlichste Methoden versuchten das Unbewusste zu Tage zu fördern. Als eine dieser Methoden etablierte sich schnell die Écriture automatique. Hierbei sollen sich die Schreibenden ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand nehmen und ohne darüber nachzudenken mit dem Schreiben beginnen. Breton liefert in seinem Manifeste du Surréalisme (1924) folgende Anleitung:

„Lassen Sie sich etwas zum Schreiben bringen, nachdem Sie es sich irgendwo bequem gemacht haben, wo Sie Ihren Geist soweit wie möglich auf sich selber konzentrieren können. Versetzen Sie sich in den passivsten oder den rezeptivsten Zustand, dessen Sie fähig sind. […] Schreiben Sie schnell, ohne vorgefaßtes Thema, schnell genug, um nichts zu behalten, oder um nicht versucht zu sein, zu überlegen. Der erste Satz wird ganz von allein kommen, denn es stimmt wirklich, daß in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden. […] Fahren Sie so lange fort, wie sie Lust haben. Verlassen Sie sich auf die Unerschöpflichkeit dieses Raunens. Wenn ein Verstummen sich einzustellen droht, weil Sie auch nur den kleinsten Fehler gemacht haben: einen Fehler, könnte man sagen, der darin besteht, daß Sie es an Unaufmerksamkeit haben fehlen lassen – brechen Sie ohne zu zögern bei einer zu einleuchtenden Ziele ab. Setzen Sie hinter das Wort, das Ihnen suspekt erscheint, irgendeinen Buchstaben, den Buchstaben l zum Beispiel, immer den Buchstaben l, und stellen Sie die Willkür dadurch wieder her, daß Sie diesen Buchstaben zum Anfangsbuchstaben des folgenden Wortes bestimmen.“ (Breton 1986, S. 29 f.)

Es soll so ein Schreibfluss zustande kommen, der nicht dem Denken unterliegt und somit Unbewusstes zu Papier bringt. Selbstverständlich liegt dieser Anleitung eine gewisse Ironie zugrunde. Trotz alledem, für André Breton, der Hauptfigur des Surrealismus, war die Technik der Écriture automatique eine erste Möglichkeit seine Vorstellungen vom Surrealismus in seine praktische Arbeit zu integrieren. Einen der frühen Texte, Les Champs magnétiques (1919), der gemeinsam von Breton und Soupault mittels der Écriture automatique verfasst wurde, bezeichnet Breton in seinem Manifeste du Surréalisme als das „erste[…] rein surrealistische[…] Werk“. (Breton 1986, S. 34) Es ist somit die erste literarische Manifestation des Surrealismus. Es folgten zahlreiche weitere Texte, die mittels der Écriture automatique verfasst wurden und Jahre später sprach sich Breton immer noch für die Technik des automatischen Schreibens aus.

Alles nur ein Jux?

Um einen Einblick in einen solchen Text zu bekommen, zitiere ich hier den Anfang von Les Champs magnétiques:

„Gefangene der Wassertropfen, wir sind nur ewige Tiere. Wir laufen durch die lautlosen Städte, und die Zauberplakate berühren uns nicht mehr. Was nützen die großen zerbrechlichen Begeisterungen, die vertrockneten Freudensprünge? Wir wissen nichts mehr als die toten Gestirne; wir sehen die Gesichter an; und wir seufzen vor Freude. Unser Mund ist trockener als die verlorenen Strände; unsere Augen drehen sich ziellos, hoffnungslos. Da sind nur noch die Cafés, wo wir uns treffen, um kühle Getränke, diesen verdünnten Alkohol zu trinken, und die Tische sind schmieriger als die Bürgersteige, auf die unsere toten Schatten vom Vortag gefallen sind.“ (Barck 1990, S. 45)

Man mag dieses Verfahren für Unsinn halten, für einen kleinen Scherz, den sich die Surrealisten erlaubt haben. Für die drei Freunde war es jedoch das erste Mittel, ihre Visionen einer neuen Kunst in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit zu verwirklichen. Und so lauten die letzten Sätze in Bretons Manifest: „In diesem Sommer sind die Rosen blau; der Wald ist aus Glas. Die Erde, grün ausgeschlagen, macht nicht mehr Eindruck auf mich als ein Geist aus einer anderen Welt. Leben und nicht mehr leben, das sind imaginäre Lösungen. Die Existenz ist anderswo.“ (Breton 1986, S. 43)

 

Für Interessierte hier noch ein kleines, kommentiertes Literaturverzeichnis zum Weiterlesen:

Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919 – 1939. Ein Lesebuch, Leipzig 1990. Ein wunderbares Lesebuch mit zahlreichen Texten der Surrealisten.

André Breton: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986. Hierin lassen sich sich alle Manifeste des Surrealismus von André Breton finden.

Uwe M. Schneede.: Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, München 2006. Diese Monographie zum Surrealismus ist als Einführung in das Thema geeignet. Vorwissen wird nicht benötigt.

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