Die Verbildlichung einer Utopie | #Waltherskunstkritik

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Fotografie / Kunst

Der lippenstiftrote Mund des Jungens ist weit geöffnet. Seine Lippen scheinen fein nachgezeichnet von dem intensiven Rot, das aus der Nase über den Mund die untere Lippe hinabrinnt. Ein leichtes Lächeln umspielt die Mundwinkel; in seinem Ausdruck ein stummer Schrei. Das Blut ist in hellen Tönen über seinen gesamten Oberkörper, Arme und Hände verschmiert. Die Arme des Jungen sind an seinen hageren Körper gepresst, auf dem sich in leichten Erhebungen die Gänsehaut abzeichnet. Es dämmert bereits.

Sally Mann, Trumpet Flowers, 1991, Silver dye bleach print. Private collection © Sally Mann

Sally Mann, Trumpet Flowers, 1991, Privatsammlung © Sally Mann

Bloody Nose (1991) ist eine der über zweihundert Fotografien, die Sally Mann von 1985 bis 1994 im in Virginia gelegenen Shenandoah Valley aufgenommen hat. Das zentrale Motiv dieser Fotografien sind ihre Kinder, welche sie zum Teil erstmals 1992 in dem Bildband Immediate Family veröffentlichte. In ihren Fotografien ist die überwältigende Natur des Tales mit seinen umreißenden Flüssen und der fruchtbaren Vegetation zwar stets anwesend, sie rückt jedoch in den Hintergrund. Im Zentrum stehen ihre Kinder: Emmett, Jessie und Virginia. Die Fotografien bilden den Sohn und die beiden Töchter nicht lediglich ab; sie gehen tiefer, überschreiten Grenzen und lassen den Blick durchdringen. Mithilfe der Kamera macht Sally Mann die Innenwelten der Kinder sichtbar.

 

Sally Mann, Bean’s Bottom, 1991, Silver dye bleach print. Private collection © Sally Mann

Sally Mann, Bean’s Bottom, 1991, Privatsammlung © Sally Mann

Es sind unendlich sinnliche Fotografien, die von ihrer Liebe zu den Kindern, zu ihrem Mann und zum Leben zeugen. Während des Sommers im Tal hält sie Alltagssituationen mit der Kamera fest: Nasenbluten, Erbrochenes, ein nasses Bett. Situationen, die für jede Mutter alltäglich sind, werden bei Sally Mann zu Kunstwerken; sie sind die Verbildlichung einer Utopie. Die Gedankenwelten der Kinder sind farbintensiv, fantastisch, wunderbar, offen und dennoch einem Blick von außen verschlossen. In Sally Manns Fotografien werden sie erfahrbar.

 

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Sally Mann. Mille et un passages
18. Juni bis 22. September 2019
Jeu de Paume, Paris

Titelbild: Sally Mann, Bloody Nose, 1991, Privatsammlung © Sally Mann

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