Das Gedächtnis im Zeitalter seiner Freunde | #Walthersrezension

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Literatur / Naturwissenschaft

Als sich Sigmund Freud Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Gehirn zu befassen begann, wurde ihm schnell bewusst, dass die technische Entwicklung seinen Erwartungen nicht standhalten konnte – so entstand die Psychoanalyse. Nach Jahren der Forschung und zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnis ist es uns heute möglich, nicht lediglich vom Gehirn, gar vom Gedächtnis zu sprechen. Hat sich die Neurowissenschaft doch die Aufgabe gestellt, dem Geheimnis unseres Denkens auf die Spur zu kommen. Wie das versucht wird, das zeigen Hannah Monyer und Martin Gessmann in ihrem Buch „Das geniale Gedächtnis. Wie das Gehirn aus der Vergangenheit Zukunft macht“.

Fröhliches Neuronenfischen

Es ist der Versuch das Gedächtnis ins Schlaglicht der Öffentlichkeit zu rücken – wie der Titel des Buches bereits besagt. Dem Gedächtnis soll ein neuer Platz eingeräumt werden, weg vom ewigen Gestern des Gedachten hin zum Morgen. Und hierbei nimmt das Gedächtnis eine zentrale Rolle ein. Doch schon die Konstellation des Autorenteams hätte für ein sinnfreudiges Drama gereicht. Handelt es sich doch bei Hannah Monyer um eine Neurobiologin, während Martin Gessmann als Philosoph daherkommt. Man denke nun an die spannungsgeladenen, teilweise in die Öffentlichkeit schwappende Auseinandersetzung zwischen Gehirn und Geist, bei welcher sich die einen ihrer Existenz enthoben sehen, die anderen sich gar als gottesgleich berufen fühlen. Um so erfreulicher ist es, dass man hier sehr fruchtbaren Boden für die Zusammenarbeit gefunden hat und es in ausgezeichneter Weise schafft, die verhärteten Fronten miteinander zu verbinden. So ist im Verlauf des Buches, nach einem jeden eher technischen Teil, immer wieder die Rückbesinnung auf den Alltag zu finden, welche der ein oder die andere der Naturwissenschaft gerne abspricht. Diese Rückbesinnung endet auch nicht mit Kant, sondern lässt durch anschauliche Beispiele aus der Popkultur, z. B. dem Film „Inception“ von Christopher Nolan, ein breites Publikum an den Vorgängen in unserem Kopf teilhaben.

Unser Gedächtnis kann mehr

Monyer und Gessmann zufolge wird es Zeit für eine Neubewertung des Gedächtnisses.

„Wir wollen plausibel machen, dass wir unser Gedächtnis bislang immer unterschätzt haben und wir gut daran tun, uns der Sache mit einer ganz neuen Blickrichtung zu nähern. Gedächtnis hat demnach nicht nur mit Vergangenheit zu tun, sondern auch mit Zukunft.“ Seite 20

Und die AutorInnen legen auch gleich los. Nach einem technischen Kapitel, welches das Gedächtnis verortet, hier sollte man sich eine Landkarte des Gehirns zu Hilfe nehmen, folgen die Lesenden Monyer und Gessmann in eine Welt aus interessanten Daten und Fakten, die plastisch und butterweich daherkommen und Einblick in die faszinierenden Irrungen und Wirrungen unseres Gedächtnisses geben. Schritt für Schritt wird den Lesenden der neuste Stand der Forschung präsentiert, anschaulich, dennoch mit Quellen versehen. Es wird unter anderem erklärt was eigentlich im Traum geschieht, warum man sich im Traum plötzlich in einer surrealen Welt wiederfindet und warum das ganze auch noch von Nutzen für uns ist. Auch liest sich das Buch phasenweise als Mutmacher – nicht als Ratgeber! – lernen wir doch, dass wir uns keine Sorgen machen müssen, auch wenn wir mal etwas vergessen. Dass das Vergessen sogar einen durchweg positiven Mechanismus darstellt.

„Das Gedächtnis, wenn es altert, ist nichts, was uns in unserem Leben einschränkt, sondern umgekehrt etwas, das uns hilft mit den anstehenden Aufgaben angemessen umzugehen und fertigzuwerden.“ Seite 181

Kausalität oder Freiheit?

Gegen Ende wird dann auch noch die Frage angegangen, wie es denn mit Freiheit und Determinismus zu halten ist. Ob der Mensch einen freien Willen besitzt, oder ob sein ganzes Leben durch eine Kausalkette vorherbestimmt ist. Monyer und Gessmann rücken von beiden Extremen ab und plädieren vielmehr für die Deutung nach einer Netzwerkstruktur, aus der sich Freiheit und Determinismus höchstens ergeben können und folglich nicht als unabhängige Weltanschauung aufrechtzuerhalten sind. Ihr ganzes Werk über bewegen sich Monyer und Gessmann eher auf mittlerem Pfad, nicht zu viel, nicht zu wenig, nicht zu schwierig, nicht zu leicht, nicht zu laut und nicht zu leise – ein Buch im goldenen Schnitt.

 


Das geniale Gedaechtnis von Hannah Monyer

© Knaus Verlag

Das geniale Gedächtnis 
Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht

von Hannah Monyer und Martin Gessmann

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 256 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-8135-0690-7
€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 26,90* (* empfohlener Verkaufspreis)
Verlag: Knaus
Erschienen: 21.09.2015

 


Titelbild: © Knaus Verlag | Die Zitate stammen aus dem besprochenen Buch „Das Geniale Gedächtnis. Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht“ von Hannah Monyer und Martin Gessmann.

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