Erinnerung als atmosphärisches Bildprogramm | #Walthersrezension

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Fotografie / Literatur

Als ich an einem Abend eine Folge titel thesen temperamente sah, wurde der Roman Die Fotografin – die vielen Leben der Amory Clay von William Boyd vorgestellt. William Boyd, der mir trotz seiner Berühmtheit zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt war, hält mit ersichtlicher Freude Fotografien in die Kamera, die er auf dem Flohmarkt und im Internet ersteht. Die Fotografien werden als Boyds „Inspirationsquelle“ beschrieben – er benutzt sie also nicht nur zur Untermalung seines Geschriebenen, sondern lässt sich durch die Fotografien auch zum Schreiben inspirieren. Da diese Herangehensweise nicht die übliche ist, war dies schließlich auch der Grund, weshalb ich mich dafür entschied, den Berlin Verlag um ein Rezensionsexemplar zu bitten – an dieser Stelle vielen Dank hierfür!

Eine fiktive Autobiographie

William Boyd entwirft in seinem Roman eine fiktive Autobiographie – geschrieben von Amory Clay. Diese wird am 7. März 1908 in England geboren und gehört einer recht wohlhabenden Familie an. Ihre Biographie schreibt sie im Alter von 69 Jahren auf. Der Roman verläuft allerdings nicht chronologisch, denn es werden immer wieder Passagen eingeschoben, in denen Amory von ihrem gegenwärtigen Leben erzählt und aus dieser Perspektive auf die Geschehnisse zurückblickt und sie reflektiert.

Schon früh entdeckt Amory ihre Leidenschaft für das Fotografieren. Ihr Onkel Greville Reade-Hill ist ein bekannter Fotograf und verhilft ihr zu ihrem ersten Job als Gesellschaftsfotografin. Als sie mit seiner Hilfe ihre erste Einzelausstellung in London gibt, endet diese in einem Skandal. Sie zeigt in dieser Ausstellung Fotografien von Prostituierten, die sie im Berlin der 20er Jahre aufgenommen hat.

Ihr Weg führt weiter über New York und London nach Paris, von wo aus sie sich schließlich als Kriegsfotografin zu den Schauplätzen des Zweiten Weltkrieges aufmacht. In Zuge dessen lernt sie ihren späteren Ehemann Sholto Farr kennen, der als Offizier am Krieg teilnimmt.

Der Krieg als Leitmotiv

Amory ist umgeben von Menschen, die von verschiedenen Kriegen einen Schaden fürs Leben genommen haben. Ihr Vater, der Soldat im Ersten Weltkrieg war, ist nach dem Krieg nicht wiederzuerkennen und geradezu dem Wahnsinn verfallen, ihr Ehemann, der seine Kriegstraumata versucht mit Alkohol zu verdrängen und sich schließlich zu Tode trinkt – und nicht zuletzt ihr jüngerer Bruder, der auf absurde Weise im Zweiten Weltkrieg getötet wird.

Angetrieben durch diese bitteren Erfahrungen, macht sich Amory im Alter von 59 Jahren noch einmal auf, um im Vietnamkrieg als Kriegsberichterstatterin zu arbeiten. Ihre beiden Töchter, die mittlerweile erwachsen sind, lässt sie hierfür alleine und in Sorge zurück. Als sie genug vom Krieg hat, kehrt sie wieder zurück nach Barrandale, wo sie seit dem Tod ihres Mannes lebt.

Der leichte, beschwingte Ton, in dem Amory ihre Geschichte erzählt, steht den dramatischen familiären Ereignissen und denen des Krieges konträr gegenüber. Der Stil ist ausgewogen und intelligent – in dieser Hinsicht war es ein überaus angenehmes Lesen. Wenn der Stil zu bröckeln droht – insbesondere passiert das, wenn es um Amorys Liebhaber geht – fängt sich Boyd jedoch nach wenigen Seiten wieder, sodass diese Ausrutscher sogleich verziehen werden können.

Ein atmosphärisches Bildprogramm

William Boyd entwirft in seinem Roman ein unglaublich atmophärisches Bildprogramm. Als zum ersten Mal eine Fotografie von Amorys Vater auftaucht, auf der er auf seinen Händen stehend zu sehen ist, hatte ich das Gefühl, das Bild bereits gesehen zu haben und ich habe tatsächlich im Buch zurückgeblättert, um zu überprüfen, ob nicht tatsächlich schon einmal ein ähnliches Bild gezeigt wurde. Stattdessen fand ich die wundervolle Beschreibung Beverly Vernon Clays zu Beginn des Buches: „In meiner frühesten Erinnerung an ihn steht mein Vater kopf, im Garten von Beckburrow, unserem Haus unweit von Claverleigh, in East Sussex. Dieses Kunststück beherrschte er mühelos, er hatte es sich als Junge beigebracht. Jedes Stück Rasen war ihm recht, um sich in den Handstand zu schwingen und sogar ein paar Schritte auf den Händen zu laufen. […] Er stand gern kopf, erklärte er, weil es seine Sinne schärfte, seine Wahrnehmung der Welt. ‚Ich sehe euch Mädchen von den Füßen hängen wie Fledermäuse‘, sagte er gern, während er Handstand machte, ‚und ihr tut mir leid, o ja, in eurer verkehrten Welt. In der die Erde oben und der Himmel unten ist. Ihr armen Mäuse.‘ Nein, nein kreischten wir dann immer aufgeregt zurück, nein – du stehst doch verkehrt herum, Papa, nicht wir!“

Eine in dieser Hinsicht weitere einprägsame Textstelle war für mich die, in der Amory an ihre Erlebnisse in Berlin zurückdenkt. Es ist nicht einfach eine Erinnerung an das Gelesene, sondern die Erinnerung an das Gefühl. Ich sehe Amory vor mir, wie sie in Berlin durch die Bordells und Clubs streift, als wäre ich selbst dabei gewesen. All die Gerüche, Geräusche, das Aussehen der Gebäude und Straßen Berlins sind mir in diesem Moment präsent. Hierzu führten nicht lediglich die beigefügten Fotografien, sondern viel mehr Boyds Begabung solch starke Bilder mittels der Sprache entstehen zu lassen.

Fotografie und Literatur vereint

Boyd konstruiert das Portrait einer Frau, die in jeder Hinsicht ihres Lebens Stärke beweist und sich entgegen herkömmlicher Vorstellungen für ihren eigenen Weg entscheidet. Eine Frau, die sich gegen Ende ihres Lebens fragt, was eigentlich das Gegenteil eines Fehlers sei und zu dem Schluss kommt, dass keines existiert. So blickt sie auf ihr Leben voller Fehler zurück, ohne einen einzigen davon zu bereuen: „Ja, mein Leben war sehr kompliziert, doch nun wird mir klar, dass gerade diese Komplikationen mich gefordert und am Ende beglückt haben.“

Etliche Werke von Gegenwartsautoren habe ich nach der Hälfte oder sogar schon nach wenigen Seiten weggelegt. Zuletzt erging es mir so beim hochgelobten Roman „Altes Land“ von Dörthe Hansen. Hier habe ich bis zur Hälfte durchgehalten, aber dann wollte ich einfach nicht mehr weiterlesen und meine Zeit sinnvoller nutzen. Somit bin ich von William Boyd mehr als überrascht worden. Ein Gegenwartsautor, der unglaublich gut schreibt und sich nicht in Klischees verliert. Dazu noch die künstlerische Komponente durch die beigefügten Fotografien – ein wunderbares Werk der Gegenwartsliteratur.

William Boyd – Die Fotografin
560 Seiten
ISBN: 978-3-8270-1287-6
24,00 €
Berlin Verlag

Titelbild: © Berlin Verlag

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