DIE DADA – ein erstes umfassendes Übersichtswerk zum weiblichen Dadaismus | #Walthersrezension

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Kunst / Literatur

Die Kulturwissenschaftlerin Ina Boesch, Herausgeberin von DIE DADA, hätte keinen besseren Zeitpunkt zur Veröffentlichung ihrer Publikation wählen können. Zum einen feiert Dada in diesem Jahr sein 100-jähriges Jubiläum und zum anderen herrscht in der Kunstwelt seit einiger Zeit eine anhaltende Debatte zu den vergessenen Künstlerinnen der Moderne. So wurden im „Dada-Jahr“ bereits mehrere Ausstellungen speziell zu den Dadaistinnen initiiert, darunter die von Ina Boesch kuratierte Ausstellung Die Dada La Dada She Dada[1]. Auch zu den in Vergessenheit geratenen Künstlerinnen der Avantgardebewegung Der Sturm gab es 2015 eine umfangreiche und mit internationalen Leihgaben ausgestattete Retrospektive in der Schirn Kunsthalle Frankfurt zu sehen.[2] Ebenso wie die Publikation Ina Boeschs, verfolgte diese das Ziel, die in Vergessenheit geratenen Künstlerinnen der Avantgardebewegung wieder, oder erstmals, in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken und ihr Werk einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Endlich alle Dadaistinnen benennen

DIE DADA ist in zwei Teile gegliedert. Der erste, von der Herausgeberin verfasste Teil, trägt den Titel DADA DAMEN. Dieser Teil gibt einen Überblick zu den Dadaistinnen, die in folgende genrespezifischen Kategorien eingeordnet werden: Literatinnen, bildende Künstlerinnen, Tänzerinnen, Pianistinnen, Verlegerinnen, Mäzeninnen sowie Modelle und Musen. Die Autorin gibt einen Überblick zu den künstlerischen Beiträgen der jeweiligen Künstlerinnen und beleuchtet zugleich ihr Umfeld. Der zweite Teil mit dem Titel VORREITERINNEN umfasst fünf Essays von Autorinnen und einem Autor zu den Dadaistinnen Elsa von Freytag-Loringhoven, Sophie Taeuber, Hannah Höch, Céline Arnauld und Angelika Hoerle.

Im Vorwort formuliert die Herausgeberin Ina Boesch bereits deutlich ihr Anliegen: „Mit der vorliegenden Publikation möchte ich die vergessenen, verniedlichten oder zu einer Fussnote degradierten Frauen, die Dada mitprägten, aus dem Dunkeln holen, sie ins rechte Licht rücken und ihren Beitrag sichtbar machen.“[3] Boeschs Anliegen ist es also die vergessenen Künstlerinnen des Dadaismus wieder, oder erstmals, bekannt zu machen und ihr Werk umfassend zu würdigen. Die Herausgeberin ist von der Bedeutung der Künstlerinnen für Dada überzeugt, so lautet ihre These: „Ob am Rand oder im Zentrum, ob anerkannter Star oder Unbekannte: Alle prägten Dada mit, schon allein dadurch, dass sie mit ihrer Teilnahme aus einer Soiree jene typische vielfältige, eklektisch, undogmatische, heterogene Mischung machten, die die Dada-Spektakel auszeichnete.“[4] Laut der Autorin übten also alle Dadaistinnen, bekannt oder unbekannt, einen nicht zu vergessenen Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung Dadas aus. Um diese wieder, oder erstmals, bekannt zu machen, hat sie sich, entgegen früherer Publikationen zur weiblichen Seite Dadas, vorgenommen „«alle» Frauen in den Blick nehmen, die an Dada mitgewirkt haben […]“[5] Außerdem ist es ihr Ziel „die Perspektive auch zeitlich und geografisch aus[zuweiten]“[6], so sollen Dadaistinnen aller Länder und Städte, Protodadaistinnen oder bereits etablierte Künstlerinnen des Dada erwähnt werden.

In einer Einleitung, die den programmatischen Titel Cherchez la femme trägt, gibt die Autorin einen kurzen Überblick zur Stellung der Künstlerin im Dadaismus. Als Einstieg beschreibt sie das Gemälde Cabaret Voltaire des bildenden Künstlers Marcel Janco, auf dem die Gründungsstätte Dadas, das gleichnamige Cabaret in Zürich, von innen abgebildet ist. Auf diesem Werk sind vor allem Männer abgebildet – im Publikum wie auf der Bühne. Schließlich gelingt es allerdings doch – „cherchez la femme“ – zumindest eine Frau zu finden. Und sie steht sogar auf der Bühne. Es ist die Diseuse und Dichterin Emmy Hennings, die als Mitbegründerin des Cabaret Voltaires gilt. Sie ist zugleich die Hauptfigur dieses Kapitels, immer wieder führt die Autorin auf sie zurück. Auch in den weiteren Kapiteln gibt es Hauptfiguren, die ihr Genre vertreten. Diese sind die Literatin Mina Loy, die bildende Künstlerin Suzanne Duchamp, die Tänzerin Katja Wulff, die Pianistin Nelly van Doesburg, die Verlegerinnen Magaret Anderson und Jane Heap, die Mäzenin Katherine S. Dreier sowie die Modelle und Musen Eva Grosz und Gala Eluard. Nach einer kurzen Einführung zur Gründung und Bedeutung des Cabarets, gibt die Autorin auch einen kurzen Überblick zu den Zielen und Wirkungsweisen Dadas. Zum einen kritisiert sie das Fehlen der zahlreichen Dadaistinnen in den gängigen Werken ihrer männlichen Kollegen, andererseits beschreibt sie aber auch die „Selbstbeschneidung“ der Künstlerinnen, die sich oft zugunsten ihrer Ehemänner zurückhielten oder sich lediglich als Musen inszenierten. So stellte sich, nach Boesch, auch eine Emmy Hennings häufig in den Schatten ihres Mannes, obwohl beide bis zu seinem Tod eine produktive Liebes- und Kunstbeziehung führten, in der sie sich besonders in ihrer künstlerischen Arbeit gegenseitig unterstützten.

Aber warum sind die Dadaistinnen heute so unbekannt?

Ina Boesch nennt in ihrem Werk zwei Hauptgründe, die dazu führten, dass die zahlreichen Dadaistinnen in Vergessenheit gerieten. Zum einen sei es die Nichtexistenz kunstgeschichtlicher Publikationen von den Frauen und zum anderen die Tatsache, dass sie zumeist eine Rolle in den flüchtigen Künsten, also Tanz, Musik und Performance, spielten. Von den männlichen Dadaisten sind lange nach der Dada-Hochphase mehrere Memoiren erschienen. Erwähnt werden von Boesch etwa das Werk Hans Richters DADA – Kunst und Antikunst oder die Schrift Mit Witz, Licht und Grütze. Auf den Spuren des Dadaismus von Richard Huelsenbeck. Diese Erinnerungen würden jedoch, laut Boesch, die Geschichte Dadas manipulieren, indem sie Künstlerinnen der Bewegung herabsetzten oder gar unterschlügen. Die Kunstgeschichtsschreibung ist eine männliche, das war auch schon vor Ina Boeschs Publikation bekannt. Doch das sei nicht der einzige Grund, weshalb die Dadaistinnen in Vergessenheit gerieten. Auch, dass die Künstlerinnen vor allem als Musikerinnen oder Tänzerinnen auftraten, habe zum Vergessen geführt. Diese Auftritte konnten nicht wie Gemälde der bildenden Künste konserviert und der Nachwelt gezeigt werden, sie waren situativ und sind somit heute nicht mehr zugänglich.

Der erste Teil der Publikation bietet einen recht oberflächlichen, aber unterhaltsamen, Überblick zu den Dadaistinnen verschiedenster Kunstrichtungen. Geschuldet ist diese Oberflächlichkeit vor allem die Intention der Autorin alle Künstlerinnen in ihrem Werk zu benennen. Dies geschieht insbesondere durch Kurzbiografien aller erwähnten Dadaistinnen, die am Rand des Fließtextes erscheinen. Diese Kurzbiografien sind fast immer mit einer Photographie, auf der die Künstlerin abgebildet ist, versehen. Außerdem beinhalten die Kurzbiographien den vollständigen Namen der Künstlerin, falls bekannt Geburts- und Sterbejahr, ihre Funktion innerhalb Dadas sowie eine geografische Zuordnung ihres Wirkens. Teil Eins beschreibt vor allem die Lebensumstände der Künstlerinnen und berichtet von der Zeit, in der sie wirkten. Häufig werden die zahlreichen Dada-Soireen detailliert und im Hinblick auf die Rollen, die die Dadaistinnen darin spielten, beschrieben. Es werden Werke der Künstlerinnen vorgestellt und ihre Beziehungen untereinander und zueinander geschildert. Von den genannten Werken werden leider keine Abbildungen geliefert. Hier bleibt nur die Beschreibung der Autorin. Lediglich im Schlussteil lassen sich zwei der zahlreichen Collagen von Hannah Höch finden. Durch das Weglassen der Werke verstärkt Boesch den Fokus auf eine biographische Darstellung der Künstlerinnen. Auch im Hinblick auf die flüchtigen Künste macht diese Entscheidung Sinn, denn diese können nicht in einer Abbildung sichtbar gemacht werden. Platz für Text wird abgesehen davon benötigt, schließlich soll auch etwas über die ganz unbekannten Dadaistinnen geschrieben werden.

Ein feministisches Pamphlet?

Boeschs Übersicht liest sich weitgehend wie ein Loblied auf die Dadaistinnen. Es handelt sich bei der Publikation jedoch nicht um ein feministisches Pamphlet, dass die Dadaistinnen über ihre männlichen Kollegen stellen würde. Vielmehr rezipiert Boesch die bisherige von Männern dominierte Kunstgeschichtsschreibung kritisch. Hierbei würdigt sie zwar das Werk der Künstlerinnen, erhebt es jedoch nicht über das der Künstler. Ein Blick in den Anhang zeigt, dass überwiegend die Dadaistinnen selbst oder andere Künstler und Künstlerinnen dieser Zeit zu Wort kommen. Diese Zitate werden gelegentlich, aber nicht immer, hinterfragt. Formulierungen wie „Duchamp hatte seine Männerbrille aufgesetzt“[7] zeugen vom subjektiven Blick der Autorin. Dennoch sind es diese Formulierungen, die die Publikation lebendig und unterhaltsam werden lassen. Es handelt sich hierbei nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern vielmehr um eine sehr subjektive Darstellung der Künstlerinnen im Dada Anfang des 20. Jahrhunderts. Hinsichtlich der Intention der Autorin, diese Künstlerinnen erstmals zu benennen, die Rezeptionsgeschichte aufzuarbeiten und die Biographien dieser Künstlerinnen einem breiten Publikum zugänglich zu machen, ist diese Herangehensweise sicherlich eine gute Wahl.

Auch die Essays im zweiten Teil der Publikation lesen sich vielmehr als eine Lobeshymne auf die jeweiligen Künstlerinnen. Allerdings behandeln diese die jeweiligen Themen weniger oberflächlich, als es im ersten Teil der Publikation der Fall ist. Den Lesenden wird hier ein tieferer Einblick, insbesondere in das Werk der jeweiligen Künstlerin, ermöglicht. Bei den Autorinnen und dem Autor handelt es sich um Expert*innen im Bereich Dada. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Hemus etwa, publizierte mit Dada’s Women im Jahr 2009 das erste Übersichtswerk zu den Künstlerinnen im Dadaismus, das bereits als Standardwerk gilt. In Die Dada können wir einen großartigen Essay von ihr zur – bis heute unbekannten – Schriftstellerin Céline Arnauld lesen. Diese in Rumänien geborene Künstlerin, emigrierte vor dem Ersten Weltkrieg nach Paris und etablierte dort 1920, die von ihr herausgegebene Zeitschrift Projecteur. Namhafte, männliche Dadaisten wie André Breton, Louis Aragon oder Tristan Tzara publizierten in dieser Zeitschrift, doch auch der unbekannten Schriftstellerin Renée Dunan gab Arnauld eine Möglichkeit ihre dadaistischen Texte im Projecteur zu veröffentlichen. Auch Arnauld selbst war in ihrer Zeitschrift mit mehreren ihrer Gedichte vertreten.

Weitere Auseinandersetzung gewünscht!

Die Collagen Hannah Höchs sind mittlerweile allseits bekannt, doch wie sieht es mit den Performances einer Elsa von Freytag-Loringhoven aus oder den verrückten Tänzen einer Katja Wulff? Es sind Namen, die selten bei einem Diskurs zum Dadaismus fallen. Ina Boesch gelingt es mit ihrer Publikation nun auch diese Namen der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Etliche Dadaistinnen werden in ihrem Werk angeführt. Im ersten Moment wird diese schier unendliche Aufführung die Leser*innen überfordern. Letztlich überzeugt Ina Boesch jedoch in einem gut leserlichen Text, von der Notwendigkeit ihrer Wahl, „alle“ Künstlerinnen zu benennen. Ihre Forschungsarbeit sollte hinsichtlich ihrer akribischen Suche nach all den vergessenen Dadaistinnen und ihrer erstmaligen Nennung gewürdigt werden und einen Anstoß für die weitere Auseinandersetzung geben. Auch sollte diese angefangene Sammlung dadaistischer Künstlerinnen in Zukunft ergänzt und vervollständigt werden.

Ina Boeschs DIE DADA ist die erste umfassende Publikation zum weiblichen Dadaismus im deutschsprachigen Raum. Der Herausgeberin ist es erstmals gelungen ein Übersichtswerk zu den Dadaistinnen zu schaffen. Daraus entstanden ist eine Art lebendiges Lexikon, das nicht nur Auskunft in knapper Form bietet, sondern diese ausschmückt und die Leser*innen zu einer unterhaltsamen und aufschlussreichen Reise in die Welt des weiblichen Dadaismus einlädt. Wer Dada einmal aus einer neuen und erfrischenden Perspektive betrachten möchte, sollte nicht zögern Ina Boeschs Publikation in die Hand zu nehmen.

[1] Die Dada La Dada She Dada. 25. Oktober 2014 – 18. Januar 2015, Forum Schlossplatz Aarau, Aarau, Schweiz; 22. März – 28. Juni 2015, Kunstmuseum Appenzell, Appenzell, Schweiz; 3. Oktober 2015 – 10. Januar 2016, Le Manoir de la Ville de Martigny, Martigny, Schweiz.

[2] Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932. 30. Oktober 2015 – 7. Februar 2016, Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main, Deutschland.

[3] Ina Boesch (Hg.): DIE DADA. Wie Frauen Dada prägten, Zürich 2015, S. 2.

[4] Ebd., S. 2 f.

[5] Ebd., S. 2.

[6] Ebd., S. 3.

[7] Boesch 2015, S. 76.

Ina Boesch (Hg.) – DIE DADA. Wie Frauen Dada prägten
164 Seiten, 11 farbige und 46 sw Abbildungen
ISBN: 978-3-85881-453-1
29,00 €
Scheidegger & Spiess

Titelbild: © Scheidegger & Spiess

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